WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Hunger 1914-1918: Die Blockade gegen Deutschland war ein Verbrechen

Geschichte Hunger 1914-1918

Die Blockade gegen Deutschland war ein Verbrechen

Schon in seinem Bombenkriegs-Buch „Der Brand“ bürstete Jörg Friedrich den Zweiten Weltkrieg gegen den Strich. Jetzt nimmt er sich den Ersten Weltkrieg vor und setzt scharfe Akzente gegen die Entente.
Leitender Redakteur Geschichte

Wenn es hundert Jahre lang auf dieselbe einfache Frage keine einleuchtende Antwort gibt, mag das daran liegen, dass die Frage falsch gestellt ist. Dann lohnt es sich, anders zu fragen. Genau das ist die Spezialität des Berliner Publizisten Jörg Friedrich, bekannt vor allem für sein Buch „Der Brand“ von 2002 über den Bombenkrieg gegen Deutschlands Städte 1940 bis 1945.

Seit 1914 schon wird darüber gestritten, wer die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg trage. Deutschland fühlte sich eingekreist, erklärte Russland und Frankreich deshalb den Krieg und erzwang mit dem Bruch der belgischen Neutralität den Kriegseintritt Großbritanniens – so der brüchige Kompromiss, auf den sich die Mehrheit der internationalen Experten nach langen Debatten geeinigt hat.

Doch im Vorfeld des 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs hat der in Cambridge lehrende Australier Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ diese Formel für untauglich erklärt. Dazu nahm er die längere Vorgeschichte des Kriegsausbruchs 1914 kritisch in den Blick und vor allem die Rolle Serbiens, aber auch Russlands, Frankreichs und Großbritanniens. Sein Buch ist mit inzwischen 13 Auflagen ein spektakulärer Erfolg im deutschen Buchhandel.

Irrationales Agieren

Ebenfalls gut verkauft sich Herfried Münklers Band „Der Große Krieg“. Der Berliner Politikwissenschaftler unterscheidet zwischen „langen“ und „kurzen“ Wegen in den Krieg; dabei zeigt er durchaus Verständnis für das „irrationale Agieren der deutschen Politik“.

Vergleichsweise konventionell ist dagegen die Erklärung, die Deutschlands wohl wichtigster Experte für den Ersten Weltkrieg, der Freiburger Emeritus Gerd Krumeich, in „Juli 1914“ vorlegt. Gestützt auf diplomatische Akten, zeigt er, warum eben doch das Kaiserreich die Hauptverantwortung am Krieg treffe.

Eine verfahrene Situation – die Jörg Friedrich auflöst, in dem er sie weitgehend beiseite lässt. Am Sonntagabend hat er sein neues Buch „14/18. Der Weg nach Versailles“ zum ersten Mal öffentlich vorgestellt; es erscheint Ende der Woche.

Gescheiterte Pläne

Entscheidend, so Friedrich, sei eigentlich nicht, warum der Weltkrieg ausbrach. Viel wichtiger ist ihm, warum der Krieg nach dem Scheitern aller Offensivpläne auf beiden Seiten, also Ende 1914, nicht beendet wurde, sondern weitergeführt. Das ist eine jedenfalls in der breiteren Öffentlichkeit so noch nicht gestellte Frage.

Tatsächlich standen schon zu Beginn der letzten Augustwoche 1914, also vor dem eigentlich unwahrscheinlichen Erfolg des Vabanquespiels der Deutschen bei Tannenberg, die „Chancen hundert zu eins, dass die Entente den Krieg glanzvoll gewonnen hätte“, wie Friedrich sagt. Denn der vermeintlich den Sieg garantierende Schlieffen-Plan, also die Aufspaltung des Deutschland drohenden Zweifrontenkrieges in zwei nacheinander zu schlagende Einfrontenkriege, hatte „total versagt“.

Obwohl diese Lage jedenfalls den Kriegsparteien an der Westfront klar sein musste, konnten sie sich nicht zu ernsthaften Friedensverhandlungen durchringen. Ein entscheidender Grund dafür lag in der hasserfüllten Propaganda, die etwa die Deutschen zu „Barbaren“ oder „Hunnen“ werden ließ und Großbritannien zum „perfiden Albion“. Der Krieg gewann den Charakter eines Kreuzzuges, eines Kampfes „Gut gegen Böse“.

Der Krieg als Würfelspiel

Anzeige

So ging das Massensterben im völlig sinnlosen Stellungskrieg weiter. Friedrich bringt es im Gespräch auf die Formel: „Der Erste Weltkrieg war ein Würfelspiel – aber jeder Wurf ging zuungunsten der europäischen Zivilisation aus.“

Solche anregenden Formulierungen gehören ohne Zweifel zu seinen besonderen Stärken. Doch Friedrich würde seinem Ruf nicht gerecht, wenn er es dabei beließe. Und so unternimmt es der eloquente Publizist, der freilich manchmal von seinem Talent mitgerissen wird, in „14/18“, neben der Schuldfrage auch andere vermeintliche oder tatsächliche Wahrheiten über den Ersten Weltkrieg fundamental umzuwerten.

Beispiel Belgien 1914. Zu den wichtigsten Gründen, warum Europas Nationen keinen Ausweg aus dem Krieg fanden, gehörten die deutschen Vergeltungsmaßnahmen gegen die belgische Zivilbevölkerung, der irregulärer Kampf gegen die einmarschierenden Truppen vorgeworfen wurde. „Die Vergeltungsexzesse des deutschen Heeres wurden dem Franctireur zugerechnet, der Franctireur seiner Häuserzeile, und alle mussten dran glauben“, schreibt Friedrich.

Umstrittene Wortwahl

Im Gespräch spitzt er noch zu, spricht statt von „Franctireurs“, also dem 1914 gebräuchlichen Begriff für Freischärler, von „Partisanen“. Das ist ein gewichtiger Unterschied, steht doch Partisanenkrieg für eine irreguläre Form des Kampfes. Bei den vermeintlichen belgischen „Franctireurs“ handelte es sich dagegen meistens wohl um reguläre Milizen – wenn nicht sowieso Friendly Fire von deutschen Soldaten auf deutsche Soldaten die Panik auslöste, die zu Exzessen führte. Im Fall von Löwen ist das eindeutig nachgewiesen.

Man kann Jörg Friedrich solche Wortwahl, wenn man denn will, als Relativierung auslegen – analog zu den Vorwürfen gegen sein Buch „Der Brand“, als er Passagen über das Sterben in verschütteten Luftschutzkellern in Worten formulierte, die auch auf den Massenmord in den Krematorien von Auschwitz passten. Dem verdankt er das – völlig unzutreffende – Stigma, ein „Nazi“ zu sein. Entsprechende Vorhaltungen aber ignoriert er meist, weil sie ihm nicht substanziell genug erscheinen, sich damit auseinanderzusetzen.

Zudem bietet Friedrich seinen Kritiker auch häufig, manchmal offenbar leidenschaftlich, geradezu lustvoll Angriffsflächen. Etwa wenn er ebenfalls mündlich feststellt, die den Deutschen vorgeworfenen Untaten in Belgien 1914 seien zwar weitgehend zutreffend. „Aber die entsprechenden Handlungen der Entente in Griechenland zum Beispiel sind aus dem historischen Gedächtnis gestrichen.“

Beispiel Griechenland

Tatsächlich spielt in der heutigen Erinnerung an den Weltkrieg in West- und Mitteleuropa der Bruch der griechischen Neutralität faktisch keine Rolle – weder durch die Landung in Saloniki noch durch die Unterstützung des vom rechtmäßigen König Konstantin I. abgesetzten, westlich orientierten Regierungschefs Eleftherios Venizelos. In seinem Buch beschreibt Jörg Friedrich die verwickelten Vorgänge treffend; im Gespräch und sicher auch in der Wirkung beim Publikum wird daraus freilich mitunter eine allzu verkürzte Rechnung.

Anzeige

Noch deutlicher wird das bei einem anderen Thema, der fast totalen britischen Seeblockade, die Mitteleuropa wenigstens mit in die Hungerkatastrophe der „Steckrübenwinter“ stürzte. Fleißig hat Friedrich Quellenbelege aus westlichen Staaten gesammelt, in denen diese nur scheinbar gewaltfreie Waffe scharf attackiert wird. Die Blockade führte tatsächlich, relativierenden Deutungen vor allem in der gegenwärtigen britischen Forschung zum Trotz, zu Hunderttausenden zivilen Toten in Deutschland und Österreich-Ungarn, aber auch in neutralen Staaten wie Dänemark.

Friedrich hätte es dabei belassen können, doch das genügt ihm nicht: Er verknüpft diese Verhungerten mit den belgischen Zivilisten, die bei deutschen Vergeltungsmaßnahmen erschossen wurden und spricht von der „100- bis 200-fachen Zahl“ durch die Seeblockade. Wieder eine offene Flanke, die seine Kritiker lustvoll aufgreifen können.

Unnötige Zuspitzungen

Die Verletzung der belgischen und der griechischen Neutralität, die getöteten belgischen Zivilisten und die Opfer der Hungerblockade, aber etwa auch die deutschen Annexionspläne für Belgien und die faktisch vollzogene britische Annexion Ägyptens: Es sind solche streitbaren Verknüpfungen, die von Jörg Friedrichs Ausführungen zum Ersten Weltkrieg haften bleiben.

Im Detail ist vieles davon bedenkenswert, wenngleich nicht alles überzeugend. Dennoch ist zu bezweifeln, ob über Jörg Friedrichs Buch sachlich diskutiert werden wird. Man kann auch meinen, dass er solche Zuspitzungen nicht nötig hätte, da sein Buch auch ohne sie ein wichtiger Beitrag zum Ersten Weltkrieg wäre.

Allein: Einiges spricht dafür, dass er die Rolle des Provokateurs annehmen wird, auch und gerade auf der bereits geplanten Tournee durch Deutschland. Der erste Verriss seines Buches ist bereits erschienen, unter Verletzung der üblichen Sperrfrist für Rezensionsexemplare. Weitere werden sicher folgen, die sich eher an oberflächlichen Skandalisierungen abarbeiten werden.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema